
Danilo Selz entdeckte neulich beim Einkaufen ein T-Shirt mit der Aufschrift „Visible for those who can’t be“, übersetzt bedeutet das „Sichtbar sein für die, die es nicht sein können“. Ihm gefällt dieser Spruch. Er ist sichtbar. Als Transmann versteckt er sich nicht. Anfang des Jahres hat er sogar bei einer Fachtagung vor Mitarbeitern der Stadt Freiburg einen Vortrag darüber gehalten, wie es ist, ein Transmann zu sein. Auch in seiner Schule geht der 17-Jährige offen damit um. Selz wurde bei seiner Geburt das Geschlecht „weiblich“ zugeordnet. Gefühlt hat er sich so nie.
Dieser Artikel erschien zuerst in der Badischen Zeitung
In der Schule will er dazugehören
An den Moment vor einem Jahr, als es bei ihm „Klick“ gemacht hat, erinnert sich Selz noch genau: Er war gerade mit dem Fahrrad auf dem Nachhauseweg von Staufen nach Bad Krozingen. Er trug Kurzhaarschnitt und Unisexklamotten. Im Kopf ging er noch mal das Gespräch durch, das er gerade mit seiner Therapeutin geführt hatte. „Felicia, bist du dir sicher, dass du ein Mädchen bist?“, hatte sie ihn gefragt. Diese simple Frage machte ihm deutlich: „Rückblickend ist es so klar, dass das schon immer da war.“ Damit meint er, dass er von klein auf gerne Jungsklamotten angezogen hat. Mit dem Eintritt ins Gymnasium aber ändert sich das: Er trägt seine braunen, welligen Haare schulterlang. Manchmal zieht er Röcke an. Unbedingt will er ein Mädchen sein, sich so verhalten und kleiden – einfach, weil er dazugehören will. Aber er fühlt sich damit nicht wohl.
„Jede Trans*Person fühlt und entwickelt sich anders, ein typisches Muster gibt es nicht.“
Angelika Sandholz, Psychotherapeutin
Trans*Menschen wie Danilo Selz merken laut Angelika Sandholz häufig in der Schule, dass der biologische Körper und das, was sie empfinden, nicht zusammenpasst. „Sie fühlen sich gegenüber der Geschlechtsgruppe, der sie sich anschließen müssen, fremd“, sagt die Psychotherapeutin der Universitätsklinik Freiburg. Sie bietet dort seit 20 Jahren eine Sprechstunde für Trans*Menschen an. „Jede Trans*Person fühlt und entwickelt sich anders, ein typisches Muster gibt es nicht“, so Sandholz.
Danilo Selz brauchte Zeit, bis er sagen konnte: Ich bin ein Junge. „Ich bin noch früh dran. Viele registrieren das erst mit 30 oder noch später“, sagt er. Vom Ellenbogen bis zum Handgelenk sind an seinen Armen kleine längliche Narben zu sehen – eine Zeit lang hat er sich selbst verletzt. Das war Anfang 2016. Er hatte sich gerade als lesbisch geoutet und die Haare abgeschnitten. Eigentlich dachte er, alles sei in Ordnung. „Dann bin ich in ein Loch gefallen“, sagt Selz. Nach vier Wochen war er magersüchtig und depressiv. Weitere vier Wochen später wog er so wenig, dass er nicht mehr in die Schule konnte. All das bis hin zu Suizidgedanken komme bei Transsexuellen oft vor, weil sie ihren eigenen Körper hassen, sagt Angelika Sandholz.
Seine Mutter fühlte sich gegenüber den Therapeuten ohnmächtig
Für ein Jahr muss Selz 2016 wegen seiner Depressionen in die Kinder- und Jugendpsychiatrie in Freiburg. Weil er so unglücklich ist, schaut er dort Fotos von sich selbst aus besseren Zeiten an, auf denen er lacht. Er sehnt sich danach, wieder gesund zu sein. Während er die Fotos betrachtet, sagt er: „Das bin nicht ich.“ Er kann sich mit der Person auf dem Bild nicht identifizieren. Es fühlt sich für ihn an, als sei das jemand anders – eine abgekoppelte Version von ihm, wie eine Schwester. Warum das so ist, weiß er nicht. Seine Mutter aber hat eine Ahnung.
Ulrike Selz wendet sich an seine Therapeutin: Könnte es ein Identitätsproblem sein? „Als die Krankheiten kamen, hatte ich das Gefühl, es steckt mehr dahinter“, sagt sie. Sie nimmt all ihren Mut zusammen und spricht das an. „Weil ich Monate hinter mir hatte, an dem ich jeden Tag befürchtet habe, es kommt der Anruf, dass er sich vor den Zug geworfen hat.“ Doch die Therapeutin reagiert nicht auf die Vermutung der Mutter. Ulrike Selz fühlte sich ohnmächtig. Heute sagt sie, womöglich hätte ihr Sohn schon früher wissen können, warum es ihm schlecht geht. „Uns fehlen die niedergelassenen Therapeuten, die sich mit dem Thema auskennen oder auseinandersetzen wollen“, bestätigt Angelika Sandholz.
Jeder der will, kann fragen stellen
Mit seiner Magersucht und seinen Depressionen geht Selz an seiner Schule offen um. Nach dem Klinikaufenthalt im Mai 2017 muss er eine Klasse wiederholen. Genau ein Jahr später ändert sich seine Welt komplett. 14 Tage nach dem „Klick“-Gespräch mit seiner Therapeutin, direkt nach den Pfingstferien, will er seinen Mitschülern unbedingt etwas mitteilen. Er ist nicht nervös. Er weiß, er wird für sich das einzig Richtige tun. Vor Stundenbeginn steht er auf und sagt: „Hallo, hoffentlich hattet ihr schöne Ferien. Vielleicht habt ihr es euch schon gedacht, ich möchte von nun an als Mann leben. Und ich bitte euch deshalb, mich ab sofort Danilo zu nennen und mich mit Er-Pronomen anzusprechen.“ Während er spricht, sieht er, wie sich einige Mitschüler ungläubig anschauen. Er gibt ihnen die Möglichkeit Fragen zu stellen. Als niemand etwas wissen will, setzt er sich wieder hin.
„Ich war im ersten Moment erleichtert, als klar war, was los ist.“
Ulrike Selz, Danilos Mutter
Ab diesem Moment muss sich alles ändern: „Es konnte mir nicht schnell genug gehen“, sagt er. Die Haare werden noch kürzer, er trägt jetzt einen Undercut. Im Kleiderschrank landen Jungsunterhosen. Er will seine Brüste weg und Namen und Geschlecht im Pass geändert haben. Von seiner Mutter hat sich Selz immer unterstützt gefühlt. „Ich war im ersten Moment erleichtert, als klar war, was los ist“, sagt Ulrike Selz. Als Mutter hatte sie Angst davor, wie die Menschen auf ihren Sohn reagieren. Seine fünf Jahre jüngere Schwester weinte. „Ich will meine Schwester nicht verlieren“, sagte sie zu ihm. Heute ist sie stolz, einen Bruder zu haben.
Im Sommer 2018 wandte sich seine Mutter an den Freiburger Verein Fluss. Dieser setzt sich für Bildungs- und Aufklärungsarbeit zu Geschlechterrollen ein und bietet eine Hilfsgruppe für Eltern von Trans*Kindern und -*Jugendlichen an. Als der Verein sich gründete, kamen fünf Elternpaare zu den Treffen, mittlerweile sind es 20. Selz und seine Mutter erfahren bei Fluss, dass sie zwei psychologische Gutachten brauchen, um den Namen zu ändern und das Hormon Testosteron verschrieben zu bekommen. Durch die Gutachten übernimmt die Krankenkasse auch die Kosten für die Brust-OP. Das dauert. Die Gutachten seien nötig, um zu unterscheiden, ob es sich bei einer Geschlechtsidentitätsstörung nur um eine Phase der Identitätsfindung handele, sagt Sandholz. Auch zu ihr in die Sprechstunde kommen mittlerweile mehr Personen als früher, die sich ihrem zugeordneten Geschlecht nicht angehörig fühlen.
Im Pass steht jetzt alles richtig
Seit September darf Selz Testosteron nehmen. Seine Stimme ist tiefer geworden, er hat mehr Haare an den Armen, unter den Achseln und am Bauch bekommen, seine Brüste sind kleiner geworden und auch die runde Hüfte ist weg. „Ich bin kastiger geworden, weil eine Fettumverteilung stattgefunden hat“, sagt er. Für Ulrike Selz ist es schön zu sehen, wie er sich über die körperlichen Veränderungen freut. „Aber es ist auch ein Abschied von meiner Tochter. Ich muss etwas aufgeben, um wieder ein glückliches Kind zu bekommen“, sagt sie. Im Pass steht jetzt alles richtig: „Danilo Selz“ und „maskulin“. Dafür musste im Januar ein Gericht zustimmen. Für die Personenstandsänderung mussten Selz Eltern in Vorkasse gehen. 2000 Euro bezahlten sie bereits, es könnten 5000 Euro werden.
Um seine Brüste zu verstecken, trägt er seit seinem Outing einen Binder, eine Art Schlauch, der ihm oben alles abschnürt, wie ein schlecht sitzender BH. Manchmal wird ihm trotz des Binders schlagartig klar, dass seine Brüste noch da sind. An einen Moment in der Sportumkleide erinnert er sich besonders gut. Damals machte er schon bei den Jungs mit, traute sich aber noch nicht, sich vor den anderen umzuziehen. In der separaten Umkleidekabine schaute er an sich herunter und dachte: „Ich will sie einfach nur abschneiden lassen.“ Er weinte. Bald sollen seine Brüste wegkommen. Er wartet auf die Rückmeldung der Uniklinik.
„Ich will zeigen: Ich bin normal.“
Danilo Selz
Seine Eierstöcke sollen später rausgenommen werden. Und beim Penis? „Ich habe mich noch nicht entschieden.“ Der offene Umgang mit sich und gegenüber anderen, wird für Selz immer wichtig bleiben: „Wenn ich ein Geheimnis daraus mache, fördert das nur die Vorstellung, dass Transsein etwas Schlimmes ist. Ist es aber nicht. Ich will zeigen: Ich bin normal.“ Er hofft, dass seine Offenheit etwas in der Gesellschaft verändert. Genauso wie es der Spruch besagt auf dem T-Shirt, das er neulich gesehen hat: „Visible for those who can’t be.“