
Kaum erforscht und für viele Menschen immer noch ein Gesprächstabu: Wer asexuell ist, empfindet gegenüber anderen keine sexuelle Anziehung. Zwei Freiburger erzählen, wie es ihnen damit geht.
Wenn Katarina Koch* sich Partnerschaftsanzeigen anschaut, fällt ihr auf: Ein Viertel der Interessierten sucht nach „etwas Leidenschaftlichem“. Jedes Mal, wenn die 47-Jährige die Inserate überfliegt, gibt es zwei bis drei Männer, die bereits in einer Beziehung sind, in der die Luft raus ist und die nach etwas Sexuellem suchen. Für Katarina Koch ist das nichts. Sie hat kein Interesse an Sex mit anderen Menschen.
Zurück kamen übergriffige Nachrichten
Zwei Mal hat sie selbst eine Annonce aufgegeben. Ihre Titel: „Platonische Liebe gesucht“ und „Asexualität ist keine Krankheit“. Zurück kamen übergriffige Nachrichten: „Holst du mir wenigstens einen runter?“, „Was soll die blöde Anzeige, das hat mit Liebe nichts zu tun“. Einmal wurde ihr vorgeworfen, sie sei verklemmt oder müsse nur mal mit dem Richtigen schlafen. Wenn sie das Gefühl beschreiben soll, das sie beim Lesen der Zuschriften spürte, muss sie nicht lange überlegen: „Scham!“ Sie fühlte sich unnormal, „wie von einem fremden Planeten“. Geschrieben hatte sie, dass sie sich Geborgenheit und Zärtlichkeit wünsche: Sie stellt sich einen Partner vor, mit dem sie wandern und in die Sauna gehen kann, dass sie füreinander da sind, wie in jeder anderen Beziehung auch – „nur eben ohne Sex“.
Asexualität ist eine sexuelle Orientierung. Sie bezeichnet die Abwesenheit von sexueller Anziehung gegenüber Anderen. „Jemand, der asexuell ist, kennt das sexuelle Verlangen einfach nicht“, sagt die Freiburger Sexualtherapeutin Corinna Pette. Wichtig ist der 58-Jährigen, dass diesen Menschen nicht direkt eine sexuelle Störung angedichtet wird, sondern eine genaue Abklärung stattfindet. „Ich frage meine Patienten immer: Welche Bedeutung geben Sie dem, dass Sie kein sexuelles Verlangen haben?“ Ist die Antwort: Mit mir macht das nichts, besteht laut Pette kein persönlicher Leidensdruck.
Es hat lange gedauert, bis Katarina Koch selbstbewusst sagen konnte: „Es gibt Menschen, die sind homosexuell, andere sind bisexuell und ich bin eben asexuell.“ Als Jugendliche ist sie verknallt und schmachtet einen Jungen an. Sie erinnert sich, wie eine Freundin zu ihr sagt: Den würde ich nicht von der Bettkante stoßen. Sie dagegen denkt sich: „Ich will lieber mein Bett für mich alleine haben.“ Lange glaubt sie, die Lust und die Aufregung, die sie aus den Erzählungen ihrer Freundinnen kennt, käme noch. In ihrer Pubertät gibt es immer wieder Annäherungsversuche – mit Knutschen und Fummeln. Aber Koch stellt fest: Sie mag und will das nicht.
Schätzungen beruhen aus einer Studie von 1994
Wie vielen Menschen es geht wie Katarina Koch, ist unklar – das Feld ist kaum erforscht. Wissenschaftler gehen davon aus, dass ungefähr ein Prozent der Menschen asexuell sind. Diese Schätzung beruht auf einer Studie zu sexuellen Praktiken aus dem Jahr 1994, für die 18 000 Briten befragt wurden . „Es gibt eine hohe Dunkelziffer“, sagt Corinna Pette. Oft hänge diese damit zusammen, dass die Menschen, die asexuell sind, darüber schweigen oder sich nicht trauen, darüber sprechen. „Sexualität ist immer noch ein Tabuthema, vor allem wenn es um Abweichungen bestimmter Vorstellungen geht“, sagt Pette. Asexualität sei ein unscharfer Begriff und zeige sich in unterschiedlichen Formen: Manche finden Händchenhalten schön, manche suchen gerne bekleidet körperliche Nähe, manche küssen nicht gerne – „und alles, was mehr in den sexuellen Bereich reingeht, ist dann einfach unangenehm“, sagt Pette.
Über Asexualität liest Katarina Koch das erste Mal, als sie 32 Jahre alt ist. Sie findet den Begriff interessant. Sie beginnt mehr nachzulesen, ist in Internetforen unterwegs. Das bekannteste deutsche Forum für Asexualität ist Aven, ein Ableger der gleichnamigen amerikanischen Plattform. Viele in der Community bezeichnen sich selbst als „Ace“ – eine Abkürzung für „asexual“, die übersetzt gleichzeitig „Ass“ bedeutet. Ass-Karten sind deshalb häufig ein Symbol für Asexualität. Katarina Koch will die Menschen, die wie sie sind, unbedingt kennenlernen. Zuerst online, später fängt sie an, zu einem Stammtisch in Freiburg zu gehen, den sie über Aven entdeckt. Es geht um den Austausch, aber nicht darum, jemanden für eine feste Beziehung kennenzulernen.
Eine Beobachtung, die die Freiburger Therapeutin Pette auch macht: Häufig würden sich Asexuelle defizitär fühlen. Sie merken, sie empfinden nicht gleich wie die Menschen um sie herum und haben dadurch das Gefühl, mit ihnen stimme etwas nicht. „Deswegen suchen sie sich Gleichgesinnte zum Beispiel bei Stammtischen, um sich zu bestätigen: Es gibt auch andere, denen geht es so wie mir.“
Eine Beziehung will Katarina Koch trotzdem unbedingt haben. Denn nur weil sie keinen Sex möchte, bedeutet das nicht, dass sie einsam sein will. „Ich habe versucht, mir einzureden, dass ich das mit dem bisschen Sex in einer Beziehung schon schaffe.“ Schließlich mache Geschlechtsverkehr nur einen kleinen Teil einer Beziehung aus. Zwischen ihrem 40. und 42. Geburtstag probiert sie sich aus: „Andere würden das wohl als wilde Teenager-Phase beschreiben“, sagt sie. Sie sucht aktiv über Annoncen, über Dating-Portale, manchmal wird aus den Treffen mehr – aber nie gefällt es ihr. „Sex wird uns auf eine Art und Weise nahe gebracht, die sehr einseitig mit positiver Bedeutung belegt wird“, sagt Pette. Dies erzeugt einen hohen gesellschaftlichen Druck. Er muss toll sein, Spaß machen und vieles mehr.
Nachkommende Generation mit mehr Selbstbewusstsein
Pettes Erfahrung nach trifft dieser Druck die Asexuellen häufig in doppelter Intensität. Nach wie vor gelte Asexualität als Randthema in der Gesellschaft. „Ich frage mich manchmal, warum Asexualität nicht normaler ist, warum in der Öffentlichkeit nicht mehr darüber gesprochen wird“, sagt auch Katarina Koch. Sie bewundert vor allem die jungen Menschen, die in den gleichen Online-Foren wie sie unterwegs sind. In deren Beiträgen stehen Sätze wie: Ich bin halt so, entweder akzeptieren mich die Menschen, wie ich bin oder nicht – „so etwas hat mir gefehlt“, sagt sie. Auch Sexualtherapeutin Pette beobachtet eine Veränderung in der Wahrnehmung von Asexualität: Die nachkommende, jüngere Generation werde mit einem ganz anderen Selbstbewusstsein groß.
Der Freiburger Balthazar B. ist Teil dieser Generation. Er geht mit seiner Asexualität von Anfang an offen um: „Ich wusste sofort: Das passt hundertpro“, beschreibt der heute 27-Jährige den Moment, als er im Alter von 19 das erste Mal von Asexualität hört. Er spricht mit seinem Umfeld darüber und stößt auf wenig Akzeptanz: „Wir brauchen doch alle Sex“, ist eine Antwort, die er immer wieder hört. „Mit 19 fand ich das noch nachvollziehbar, dass andere mich als Spätzünder bezeichnen.“ Je mehr Zeit vergeht, desto alberner findet er es, wenn ihm das immer noch entgegnet wird. „Es ist diese Vorstellung, dass mir etwas fehlen würde, aber diese Vorstellung habe nicht ich, sondern nur alle anderen.“
„Oft wird auf Asexualität mit Skepsis reagiert, weil Menschen auf Fremdes so reagieren.“
Corinna Pette, Sexualtherapeutin
Mit 22 startet er ein eigenes Blog. Er schreibt über seine Erfahrungen. Schnell bemerkt er, dass es zu Asexualität im deutschsprachigen Raum kaum wissenschaftliche Bücher gibt. Somit beginnt er, neben seinen eigenen Erfahrungen Allgemeines und Wissenswertes zur Asexualität aufzuschreiben. Bald gibt er auch Vorträge und Workshops – vorrangig an Unis.
In diesen Diskussionen taucht oft dasselbe Thema auf: Es fehlt an Repräsentation, vor allem im fiktiven Bereich. Asexualität findet in Büchern und in Serien nicht statt. „Es wird uns allen erzählt, dass Sex ein menschliches Grundbedürfnis ist. In den Medien sind sehr viele Charaktere durch ihre Sexualität motiviert“, sagt Balthazar B. „Auch im Schulunterricht werden Jugendliche aufgeklärt.
In diesen beiden wichtigen Kontexten – Medien und Schule – taucht das Thema Asexualität nie auf.“ Nur wer über das Thema spricht, kann auch etwas ändern – in dieser Überzeugung sind sich Katarina Koch, Balthazar B. und die Sexualtherapeutin Corinna Pette einig: „Oft wird auf Asexualität mit Skepsis reagiert, weil Menschen auf Fremdes so reagieren“, sagt Pette.
Für Katarina Koch spielen die Vorurteile bis heute eine Rolle. Auch wenn sie gelernt hat, über ihre Asexualität zu sprechen, hat sie es nur wenigen anvertraut: „Ich habe Angst, dass mich Menschen danach nur noch unter diesem Label sehen. Dabei macht mich so viel mehr aus. Meine Asexualität ist nur ein kleiner Teil von mir.“ Trotzdem engagiert sie sich auch bei Aktivista – einem Verein, der Asexuelle sichtbarer machen will. Auf den ersten Blick mögen sich ihr Engagement und ihr Handeln widersprechen, Katarina Koch hat aber einen Weg gefunden, selbstbestimmt mit ihrer Asexualität umzugehen. Sie sucht nicht mehr vehement nach einem Partner wie zuvor. „Man kann nichts erzwingen“, sagt sie.
Balthazar B. hingegen ist seit zwei Jahren in einer glücklichen Beziehung. Er hat seinen Partner über eine Whats-App-Gruppe für asexuelle Menschen in Deutschland kennengelernt. Zuerst sind sie nur befreundet, bald wird aus der Freundschaft eine Beziehung. „Ich wusste, Sex muss kein Faktor sein, weil wir beide nicht daran interessiert sind“, sagt er. Sobald er sein Masterstudium in Freiburg abgeschlossen hat, wollen sie zusammenziehen.
*Name geändert