
Gemeinsam heben die Betreuer und Sanitäter die Spielerin mit den roten Stutzen auf die orangene Trage. Dann wird sie kurz vor dem Ende der ersten Halbzeit im Spiel zwischen dem SC Freiburg und dem USV Jena vom Platz getragen. Am Tag darauf dann die erschütternde Diagnose: Die 20-jährige Profispielerin Kim Fellhauer hat einen Kreuzbandriss und wird für unbestimmte Zeit ausfallen – schon wieder. Bereits als sie im Sommer 2014 zum SC wechselte, fiel sie knapp zweieinhalb Jahre wegen eines Kreuzbandrisses aus. Normalerweise dauert die Regenerationsphase bei einem Kreuzbandriss neun Monate. Doch je nach der Reaktion des Knies hält der Heilungsprozess bei dieser Verletzung länger an. Besonders Frauen leiden unter ihr.
Dieser Artikel erschien zuerst in der Badischen Zeitung
„Es gibt Untersuchungen im Bereich Fußball, die zeigen, dass Frauen sich das Kreuzband fünf mal häufiger reißen als Männer“, sagt der Chirurg und Orthopäde mit Schwerpunkt Knie vom Kreiskrankenhaus Rheinfelden, Henning Ott. Dessen Orthopädische Chirurgie mit ihrem Leiter Stefan Endres ist für Hobbysportler im Dreiländereck eine der ersten Anlaufstellen bei schwerwiegenden Verletzungen. Fünf mal häufiger – dieser Wert gilt für Profisportlerinnen. Für die normale Hobbysportlerin liegt das Risiko sogar noch höher, wie Sven Ostermeier, Facharzt für Orthopädie der Gelenkklinik Gundelfingen, weiß: „Frauen können bis zu neun mal häufiger betroffen sein.
Der Kreuzbandriss ist in Sportarten mit schnellen Richtungswechseln und vielen Sprüngen wie Volleyball, Handball, Basketball, Fußball oder Ski besonders häufig. „Natürlich kann das auch beim Joggen passieren, dort ist das Risiko aber nicht ganz so hoch. Das passiert vielleicht mal im Wald durch den unebenen Weg oder falsches Auftreten“, so Ott.
Die Kreuzbänder haben ihren Namen aus einem einfachen Grund: Die beiden Bänder, die wichtige Stabilisatoren des Kniegelenkes sind, überkreuzen sich im Knie. Sie sind sowohl wichtig für die „nach vorne“- und „nach hinten“-Bewegung des Schienbeinkopfes als auch für die Rotation. Bei einer Verletzung sackt der Patient oder die Patientin nach vorne ein oder knickt nach innen weg. „Dann reißt das vordere Kreuzband,“ so Ott. Dieses steht auch in Zusammenarbeit mit dem Innenmeniskus: „Wenn eines von beidem kaputt ist, wissen wir, kann auch die andere Struktur ein Problem bekommen“, so Ott.
Wird von einer klassischen Kreuzbandverletzung gesprochen ist immer das vordere Band gemeint. Die Verletzung des hinteren Bandes ist dagegen sehr selten. Die beiden Verletzungen stehen in einem Verhältnis von 30:1. Das hintere Band kann reißen, wenn das Knie nach hinten durchschlägt. 90 Prozent aller Kreuzbandrisse geschehen jedoch ohne Gegeneinwirkung.
Die Wissenschaft kennt mittlerweile mehrere Gründe, warum das Kreuzband bei Frauen häufiger reißt. Erstens birgt die Anatomie ein erhöhtes Risiko. Die Beinachse der Frau hat von Natur aus eine X-Stellung. „Die X-Bein-Bewegung ist häufig die einleitende Bewegung für den Kreuzbandriss“, erklärt Ott. Laut Orthopäde Ostermeier sind Gegebenheit und die Struktur der Knochen ein weiterer Faktor. Auch deren Form führt eher zu einem Kreuzbandriss.
„Es gibt Studien, die zeigen, dass Östrogene zur Lockerung des Gewebes beitragen,“ so Ostermeier. Dementsprechend können die Hormone als weiterer Faktor die Reißfähigkeit und die Elastizität von Bändern heruntersetzen. Viertens kommt die Muskelmasse hinzu: Frauen haben davon, aus körperlicher Konstitution, weniger als Männer. Dementsprechend agieren kurze, reflexartige Schutzmechanismen bei Frauen nicht so schnell. Einfluss hat auch die Körperhaltung bei Frauen. Beobachtungen beim Sprung ergaben, dass sie viel aufrechter landen, Männer eher in die Kniebeuge gehen. „Durch Videoanalysen ließ sich feststellen, dass Frauen auch zum Beispiel im Fußball beim Schuss mit ihrem Oberkörper viel weiter in Rücklage sind“, erklärt Ott. Die Summe all der verschiedenen Faktoren führt zu einem erhöhten Kreuzbandrissrisiko.
Doch gibt es auch Möglichkeiten, sich als Hobbysportler zu schützen? „Wir wissen ebenfalls aus Daten und Analysen, dass mit spezifischen Muskelaufbauprogrammen im Breitensport die Zahl der Kreuzbandverletzungen extrem gesenkt werden kann“, sagt Ott. Zu oft würden Hobbysportler davon ausgehen, dass ein guter Oberschenkelmuskel allein einen Kreuzbandriss verhindert. „Ein gut trainierter Oberschenkelmuskel ist wichtig, doch das Kreuzband reißt viel schneller, als der vordere Muskel anspannen kann“, erklärt Ott. „Man kann noch so große Muskelpakete dort haben, sie verhindern die Einknickbewegung nach innen nicht, da die Gesäß- und hüftumspannende Muskulatur für das Halten der funktionellen Beinachse verantwortlich sind.“
Die einleitende Bewegung für einen Kreuzbandriss kann ein Sportler versuchen zu verhindern in dem er neben dem Oberschenkel auch die Gesäßmuskulatur, die Bauchmuskulatur, den Rücken und vor allem die Rumpfstabilität trainiert. Dabei muss das Zusammenspiel der Muskeln immer funktionell sein. So ist allein das Trainieren an Geräten nicht so funktionell, da damit nicht die Bewegungen abgedeckt sind, die im Sportalltag vorhanden sind, wie zum Beispiel beim Ausfallschritt das Gleichgewicht zu halten. „Wenn das Zusammenspiel nicht stimmt, können die Sportler das Knie meist in der Dynamik nicht ausreichend stabilisieren“, sagt Ott. Es gibt auch Präventionsansätze, die bestimmte Schienen im Training vorsehen, um den Kreuzbandriss vorzubeugen. Beide Ärzte sehen diese Art der Prävention aber kritisch und würden eher davon abraten.
Auch für die Skifahrer gibt es eigene Präventionsansätze: Warmmachen ist ein unterschätzter Faktor. „Wer Ski fährt, belächelt nicht selten diejenigen, die Skigymnastik machen und fährt an ihnen vorbei. Aber das Aufwärmen ist der richtige Weg“, sagt Ott. Beim Skifahren ist der Klassiker, dass etwas bei der ersten oder bei der letzten Abfahrt passiert. Das hat einfache Gründe: Entweder ist das Knie für die erste Abfahrt noch nicht vorbereitet und hat keine Vorspannung, oder es ist bei der Letzten übermüdet, was die Koordination negativ beeinflusst.
Bei der Kreuzband-OP wird eine hintere Sehne aus dem Oberschenkel genommen, die in das Knie in den Verlauf des Kreuzbandes neu als Ersatz eingesetzt wird. So versuchen die Ärzte, möglichst die Originalsituation wiederherzustellen. Das direkte Zusammenflicken ist nicht möglich: Wenn das Kreuzband reißt, sind die beiden Enden vergleichbar mit einem gerissenen Seil. Der Spliss lässt sich nicht zusammenflicken. Deshalb wird ein Transplantat benötigt.
Ein Kreuzbandriss ist für die Betroffenen vor allem wegen der langen Regenerationszeit problematisch. „Es braucht gute Rehabilitation durch Physiotherapie,“ sagt Ott. Die Auszeit von neun Monaten sollte sich jeder Hobbysportler mindestens nehmen. Die schwere Knieverletzung werde oftmals bagatellisiert, so Ott. Dabei reißt bei jedem Dritten, der bereits einen Kreuzbandriss hatte, auch das Band auf der Gegenseite. „In so manchem Sportteil einer Zeitung lesen wir von einem Fußballprofi, der nach sechs Monaten wieder auf dem Platz steht. Das geht, weil er nichts anderes macht, als jeden Tag zu trainieren. Der Hobbysportler muss nebenher auch zur Arbeit gehen,“ sagt Ott.
Auf dem Nachbehandlungsplan der Profis stehen Messdatenanalyse, koordinative Fähigkeiten, Kraftfähigkeiten, Kraftausdauer – sie kehren zurück, sobald die Messdaten gut sind. Der Hobbysportler muss das „Ich fühl mich gut, ich will wieder Sport machen!“ selbst definieren.
Spezielle Programme zum Muskelaufbau helfen
Gründe für den erneuten Kreuzbandriss sind oft, dass bei der Rehabilitation von Hobbysportlern der Ansatz aus dem Profibereich fehlt: „Der Patient wird schnell durchgecheckt, sobald alles stabil aussieht und nicht mehr angeschwollen ist, wird es für gut befunden“, sagt Ott. Der Fokus auf die funktionelle Dynamik, die auch bei der Prävention eine große Rolle spielt, fehlt. „Gute Reha-Zentren und Physiopraxen schauen auch, was passiert, wenn das Knie nach einer Belastung ermüdet.“
Ott, der fünf Jahre als Mannschaftsarzt für die TSG Hoffenheim gearbeitet hat, weiß, dass hier ein ähnliches Problem vorliegt wie zwischen Profi- und Hobbysportlern: „Da die meisten Frauen in der ersten Bundesliga auch einer ,normalen’ Arbeit nachgehen, sind die Trainingsbedingungen ungleich schwerer als bei den Männern der Bundesliga.“ Die Spielerinnen, die er betreute, arbeiteten tagsüber teilweise körperlich hart in der Metallverarbeitung.
Ott kritisiert in Sachen Kreuzbandriss auch das Gesundheitssystem: „Eine teure Kreuzband-OP wird von der Krankenkasse bezahlt, die deutlich billigere Prävention aber nicht. Vielleicht sollte hier ein Umdenken stattfinden.“ Als gutes Beispiel nennt er die Verwaltungsberufsgenossenschaft, die für Fußballer, die teilweise schon auf niedrigem Niveau Geld verdienen, ein gutes Präventionsangebot bietet.