Tamara Keller

Journalistin

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Wie ein blinder Leverkusen-Fan am Sonntag das SC-Spiel erlebte

September 2018

In der 79. Minute zeigt der Schiedsrichter auf die Linie des Sechszehners der Leverkusener und pfeift Abstoß statt Eckball. Die Freiburg-Fans rund um Gerhard Stoll auf der Haupttribüne springen auf, protestieren und pfeifen den Unparteiischen aus. Stoll stört sich daran nicht. Er bleibt ruhig sitzen. Während um ihn herum die Fan-Hölle losbricht, dreht er gelassen am Lautstärkeregler des kleinen, rechteckigen schwarzen Geräts, dass um seinen Hals hängt. „Was der quatscht. Da macht der jetzt zu viel draus. Es geht doch nur um einen Abstoß. Das ist total harmlos“, kommentiert er. Er meint damit nicht die Spielfeldszene vor ihm, sondern was der Blindenreporter durch seinen Kopfhörer sagt, der ebenfalls an dem Gerät befestigt ist. Gerhard Stoll ist blind und an diesem sonnigen Sonntag extra aus der Stadt Hürth bei Köln angereist, um seinen Verein Bayer Leverkusen 04, beim SC Freiburg live zu erleben.

Dieser Artikel erschien zuerst auf fudder.de

In Freiburg sind die Kopfhörer fast zu groß für Stoll

Für den Regierungsamtsinspektor in der Lehreraus- und -fortbildung der Bezirksregierung Köln gibt es nur einen Grund ins Stadion zu gehen: Wegen der Atmosphäre. „Hier in Freiburg sind die Kopfhörer fast zu groß. In Leverkusen gibt es einen einteiligen Kopfhörer, damit das andere Ohr komplett frei ist,“ sagt der 50-Jährige. Auch hier bedeckt er absichtlich während des Spiels nicht beide Ohren mit dem Kopfhörer. „So kann ich sowohl den Kommentar der Blindenreporter als auch die Fangesänge gleichzeitig wahrnehmen.“ Selektives Hören nennt Stoll das. Bis 2006 saß er bei den Spielen ab und an im Leverkusen-Fanblock und bekam nur Fangesänge mit – nichts vom Spiel. Fußballfan ist der gebürtige Kölner schon immer. Bis er 13 Jahre alt war, konnte er noch rund elf Prozent sehen. Deshalb kann er sich gut vorstellen, wie das Spiel, das direkt vor seinen Augen hinplätschert, aussieht.

Zu der Auswärtsfahrt an diesem Sonntag ist er alleine mit dem Zug gereist und wurde erst am Bahnhof von seiner Begleitung abgeholt. „Ich habe fünf bis sechs feste Begleiter, die überall mit mir hinfahren. Dass ich wirklich alleine anreise, ist selten der Fall,“ sagt Stoll. In der Bundesligasaison 2016/2017 hat der Leverkusen-Fan einmal alle Spiele seines Vereins besucht. „Irgendwann macht das auch keinen Spaß mehr. Vor allem weil ich immer doppelt so viel organisieren muss, für die Begleitung. Aber Wert war es mir das trotzdem.“

In Freiburg besucht er das Stadion nunmehr zum vierten Mal. Hinter ihm sitzen zwei Männer in hellbauen Jacken, bedruckt mit SC-Logo, auf deren Rücken deutlich sichtbar „Blindenreporter“ steht. Sie tragen Headsets auf dem Kopf und wechseln sich während des Spiels mit dem Beschreiben der Spielszenen ab. „Wir haben uns gerade darüber unterhalten, wie das Spiel wohl so wird“, sagt Daniel Westermann, einer der Blindenreporter vor dem Spiel zu dem Leverkusen-Fan. Er und sein Kollege Julian Limberger haben Stoll zuvor die Hand geschüttelt und ihm den Kopfhörer, mit dessen Hilfe er das Spiel verfolgen kann, überreicht. Insgesamt bietet der SC sechs Karten für blinde Fans. Davon sind drei Dauerkarten und drei bei jedem Spiel zum freien Verkauf.

„Ich hoffe ihr gewinnt“, Gerhardt Stoll zu den Blindenreportern des SC

Heute halten sich vier blinde Fans im Publikum auf. Sie sitzen in den Reihen vor und hinter den Blindenreportern. „Ich hoffe, ihr gewinnt“, sagt Stoll im Fußballexpertengespräch mit den Blindenreportern. Er ist dafür, dass sich sein Verein, nach einer Niederlage vom aktuellen Trainer trennt. Ihm gefällt die Leistung der Mannschaft und des Trainers nicht. „Wir fangen ein bis zwei Minuten vor dem Spiel an. Wenn es Probleme gibt, heb einfach die Hand, wir sitzen direkt hinter dir“, erklärt der Blindenreporter kurz nochmal den Ablauf. Obwohl sie tatsächlich direkt hinter Stoll ihre Sitzplätze auf der Haupttribüne haben, ist das was sie sagen nur durch die Kopfhörer zu hören.

„Besonders wichtig, ist die Verortung“, sagt Stoll. „Wer auf welcher Seite spielt oder wie viel Meter der Ball bei einem Freistoß vom Tor entfernt ist und ob er halb rechts, mittig oder halb links vom Tor versetzt stattfindet.“ So ist der Leverkusener zum Beispiel begeistert, als der Blindenreporter nach der Halbzeitpause sagt, dass der SC jetzt auf die eigene Kurve spielt. „Das ist ein guter Hinweis. Solche Informationen sind für mich persönlich essentiell.“ Wichtig ist dem blinden Leverkusen-Fan auch, dass authentisch berichtet wird. „Die dürfen das von mir aus möglichst emotional und nahe am eigenen Verein machen.“

Er kommentiert, aber bewegt sich kaum

„Vorsicht, da!“, ruft Stoll wenn der SC gefährlich im Leverkusener Strafraum wird. Er kommentiert und fachsimpelt gerne während des Spiels mit seiner Begleitung, warum die Aktion von Leverkusen gut oder schlecht war. Manchmal begleitet er die Aktionen mit einem „Oh“-Ausruf, dann wieder ein genervtes Stöhnen. Teilweise zeitgleich mit den Aktionen, manchmal aber auch versetzt, weil der Blindenreporter in seinen Kopfhörern länger braucht, um zu beschreiben, was vor sich geht. Während der 90 Minuten bewegt sich Stoll kaum: Die Hände liegen ruhig auf seinen Oberschenkeln, während er zuhört. Aus der Innentasche seiner Lederjacke schaut sein zusammengeklappter Blindenstock heraus. „So sieht kein normaler Blindenstock aus,“ hat er zuvor noch erklärt. Für den Spieltag hat er eine besonders stabile und dicke Version.

In Freiburg gibt es die Blindenreportage seit November 2014. Der SC war damals der letzte Bundesligaverein, der die Blindentribüne einführte. „Mir gefällt bei den Freiburgern besonders, dass sie sehr akribisch sind. Die fragen bei den Trainings immer nach, was sie falsch gemacht haben“, sagt Stoll. Einmal im Jahr nimmt er an einer Schulung für Blindenreporter Teil. Dann gibt er angehenden Blindenreportern Tipps, wie Spielszenen treffend beschrieben werden können. „Eine Sache muss ich euch sagen: Nennt bitte nächstes Mal auch die taktische Aufstellung des Gegners. Ihr habt gesagt in welchem Spielsystem Freiburg spielt, bei Leverkusen aber nicht“, rät er den beiden Blindenreportern nach dem Spiel. Sonst ist Stoll aber komplett mit der Berichterstattung zufrieden. Mit einem „Bis zum nächsten Spiel!“ verabschiedet er sich aus dem Schwarzwaldstadion.

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