
„Das Geheimnis des Erfolges liegt darin, für die Gelegenheit bereit zu sein, wenn sie kommt“, leuchtet vorn von der Wand, ein Wort des britischen Politikers Benjamin Disraeli. Marlies und Richard sind bereit, keine Frage. Das klingt für beide verlockend, was der Redner da von dieser neuen Kryptowährung erzählt. Onecoin heiße sie – und sei viel erfolgreicher als das bekannte Bitcoin. Marlies träumt davon, ihre nächste große Reise zu finanzieren. Richard möchte auf originelle Weise Geld anlegen.
Dieser Text erschien zuerst in der Badischen Zeitung
Die beiden ahnen an diesem Novemberabend 2015 im Nebenzimmer einer Gaststätte in Heitersheim nicht: Sie werden keinen Erfolg haben. Am Ende haben sie 6800 Euro verloren. Die beiden gehören zu den Opfern eines Betrugs von weltweiter Dimension, bei dem 3,7 Milliarden Euro veruntreut wurden – und dessen Strippenzieher aus dem Schwarzwald stammen.
30 Interessierte trafen sich in einer Heitersheimer Gaststätte
Marlies und Richard kommen aus dem Markgräflerland. Mit der Zeitung sprechen sie über das Erlebte nur unter der Bedingung, dass ihre richtigen Namen nicht genannt werden. Sie haben in die vermeintliche Kryptowährung investiert, nach jenem Abend. Die Werbeveranstaltung in Heitersheim besuchten sie wie 28 andere Interessierte. Marlies kennt dort niemanden, nur ihren guten Freund Richard. Der wiederum kennt den Referenten, hatte bereits in einer anderen Gelegenheit mit ihm geschäftlich zu tun: Hans aus Österreich, der ihn auch zu dieser Veranstaltung eingeladen hat. „Er ist ein bodenständiger Mensch“, sagt Richard, „deshalb habe ich ihm auch bei seiner Empfehlung vertraut.“
Heute fragen sich die beiden, wie das passieren konnte. Sie wüssten schon seit mindestens 30 Jahren, räumen sie ein, was ein Schneeballsystem ist. Aber als sie selbst Geld in eines steckten, da merkten sie es nicht. „Ich ärgere mich mittlerweile über meine Dummheit, meine Blauäugigkeit und meine vertrauensvolle Naivität“, sagt Richard. Nach einem weiteren Abend im Gasthaus und einem Treffen in Basel überweist der 69-Jährige im folgenden April 5500 Euro auf ein Konto in Münster. Marlies investiert 1300 Euro. Warum sie sich fast ein halbes Jahr Zeit ließen, daran erinnern sich die beiden heute, vier Jahre später, nicht mehr.
„Uns wurde vor allem gezeigt, dass das Geld sich möglichst schnell vermehrt.“
Marlies (Name geändert)
Auch was eine Kryptowährung ist, wissen sie damals nicht: „Ich weiß, was Onlinebanking ist und wie ich das bediene, dann hört es aber bei mir auf“, bekennt Richard. Marlies nickt. Immerhin hantieren beide während des Gesprächs hin und wieder routiniert mit ihren Smartphones. „Uns wurde vor allem gezeigt, dass das Geld sich möglichst schnell vermehrt“, erinnert sich Marlies an den Vortrag. Allerdings können die Anwesenden nicht direkt in die Währung investieren, sondern nur in sogenannte „Schulungspakete“. Dann erhalten sie ein eigenes Konto mit Onecoins, der angeblichen neuen Währung. Marlies erinnert sich, dass ihr versprochen wurde, sie könne damit irgendwann überall auf der Welt bezahlen. Auch Onlinekurse zur Weiterbildung werden in den Schulungspaketen angeboten. Keiner der beiden hat das bisher ausprobiert. Damals im Gasthaus versteht Marlies irgendwann nicht mehr, über was geredet wird. Sie verlässt die Veranstaltung frühzeitig. Die Folien damals versprechen auch einen „Netzwerkbonus“: Wer weitere Kunden wirbt, kann durch eine Provision mehr Geld machen. Ein klassisches Schneeballsystem. Mit deutlich mehr Verlierern als Gewinnern. „Wir wissen nicht wie viel Hans an uns verdient hat“, sagt Richard.
Chatgruppe ist immer noch aktiv
Kurz nachdem Marlies investiert hat, schickt sie ihrem Sohn die Unterlagen und schlägt vor, er möge es ihr nachtun. Er hält das Ganze für dubios, doch Marlies glaubt nach wie vor an den Erfolg. Erst als sich Monat um Monat nichts tut, wird sie misstrauisch. Immer wieder will die gelernte Metzgerfachfrau die Hängepartie mit ihrem Akademikerfreund Richard besprechen. Er lehnt ab. Trotz enger Bindung sprechen sie fast zwei Jahre das Thema nicht mehr an.
Im Juli 2017 hält es Marlies nicht mehr aus. Zu diesem Zeitpunkt hat sie vermehrt Geldsorgen. Sie möchte ihre 1300 Euro wieder zurück haben. Sie fragt bei dem Mann nach, den sie für ihren Verlust verantwortlich macht, Hans. „Ich bin genauso wie Sie ein Partner, der ein Schulungspaket gekauft hat“, mailt er ihr zurück. Und schickt ihr eine Mailadresse der Onecoin-Firma, an die sie sich wenden soll. Hans selbst will nicht mit der Badischen Zeitung sprechen. „Ich habe das begraben und schlummere in meinem Leid“, sagt er am Telefon. Laut Marlies und Richard aber ist er nach wie vor für eine Chatgruppe zuständig, in der sich die Investoren des damaligen Gaststättentreffens austauschen.
Nach der Betrügerin aus Schramberg wird gefahndet
Eine der Vortragsfolien von damals zeigt eine Frau mit schwarzen Haaren. Das Bild ist unscharf, doch ist zu erkennen, dass sich die Frau schick gemacht hat: blaues Abendkleid, langer schwarzer Blazer, um den Hals mehrere große Silberketten. „OneCoin Inhaberin“ steht auf Englisch groß über dem Bild. Darunter etwas unauffälliger: Dr. Ruja Ignatova.
Sie hat die Firma 2014 gegründet. Geworben wird mit ihrem Lebenslauf: Studium der Rechtswissenschaften in Oxford und Konstanz, jüngste Partnerin der renommierten Beratungsfirma McKinsey. Geburtsort: Sofia in Bulgarien. Klingt nach Global Player. Was Marlies und Richard damals noch nicht wissen: Ruja Ignatova ist nur knapp 90 Kilometer von der Heitersheimer Gaststätte entfernt aufgewachsen. Sie lebte von 1990 an mit Eltern und Bruder Konstantin Ignatov in Schramberg, machte dort 1999 auch ein sehr gutes Abitur. Ein Podcast der BBC, der im vergangenen Oktober unter dem Titel „The Missing Cryptoqueen“ veröffentlicht wurde, zeichnet das Leben von Ruja Ignatova und den gesamten Betrug nach, der hinter Onecoin steckt.
Am Schramberger Gymnasium ist das Sekretariat Anfragen zu seiner berühmt-berüchtigten Abiturientin seither gewohnt. Es gebe aber niemanden mehr, der über sie Auskunft geben könne, heißt es. Eine der ersten Lokalzeitungen, die über die Verbindungen der Kryptoqueen zu Schramberg berichtete, war die Neue Rottweiler Zeitung. Dort ist die Abizeitungsseite von Ignatova zu finden. Eine ironische Selbstbeschreibung ihres schulischen Werdegangs endet mit: „Ich habe überlebt!“. Dem Schwarzwälder Boten beschreiben ehemalige Klassenkameraden sie als „unsympathisch“, als eine Mitschülerin „mit wenig Freunden.“
Im Internet sind immer noch Videos zu sehen von ihr, von Veranstaltungen wie im Londoner Wembleystadion, wo Ignatova im Juni 2016 in einem langen roten Abendkleid mit fein bestickten Glitzerperlen die Bühne betritt.
Sie verspricht den ganz großen Erfolg von Onecoin. Das Kleid ist keine Nebensache, sondern gehört zur Inszenierung: Ignatova reist um die Welt, macht Werbung für Onecoin und präsentiert nebenher auf ihren Social-Media-Accounts ein Luxusleben auf Yachten und mit Champagner.
Seit Oktober 2017 ist Dr. Ruja Ignatova spurlos verschwunden. Ihr Werbefeldzug aber hat Spuren hinterlassen. Denn Ignatovas Unternehmen besaß laut dem Kryptowährungsexperten Bjorn Bjercke niemals eine Blockchain. So nennt man ein dezentrales digitales Buchführungssystem. Das hätte Onecoin gebraucht, um Transaktionen, die hinter einer Kryptowährung stehen, technisch zu ermöglichen und zu dokumentieren.
Über ein Konto in Münster flossen 360 Millionen Euro
Ermittler gehen mittlerweile davon aus, dass über Ignatovas Betrugsstrategie 3,7 Milliarden Euro weltweit veruntreut wurden. Auch in Deutschland wird nach der „Cryptoqueen“ immer noch gefahndet. Bereits vier Monate vor ihrem Verschwinden, Ende April 2017, untersagte die deutsche Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht (Bafin) in einer öffentlichen Anordnung Geschäfte mit der Firma Onecoin in Deutschland und zugleich jede Werbung für deren Vertrieb und Verkauf. Das investierte Geld von deutschen Käufern floss über eine Firma, International Marketing Services GmbH (IMS), mit Sitz zuerst in Münster, später in Greven. Die überwies das Geld weiter an einen Onecoin-Zweig in Dubai. Die Bafin verbot der IMS, das Geld an Dritte weiterzugeben und sperrte das Konto – auf dem sich zu dem Zeitpunkt noch 29 Millionen Euro befanden. Das Geld ist bis heute eingefroren.
Laut Bafin sind über das Konto der IMS zwischen Dezember 2015 und Dezember 2016 rund 360 Millionen Euro geflossen. Auf diesen Zeitraum beschränken sich auch die aktuellen Ermittlungen der Staatsanwaltschaft Bielefeld gegen acht Personen. „Es werden umfangreiche Unterlagen ausgewertet, und ein Ende ist nicht absehbar“, teilt die Behörde auf Anfrage mit. Die Firma soll für ihr Handeln eine Entlohnung erhalten haben. Auch Marlies und Richard haben in diesem Zeitraum ihr Geld auf ein Konto in Münster überwiesen. Die Ermittler in Bielefeld wollen klären, wer die Hauptverantwortlichen sind.
705 Buchungen in drei Tagen getätigt
Auf den Betrug wurden sie aufmerksam durch eine Anzeige der Sparkasse im Dezember 2015: Diese registrierte 705 Buchungen innerhalb von drei Tagen auf dem Konto der IMS mit einem Gesamtwert von 2,5 Millionen Euro. „Die IMS GmbH hatte zur Vereinnahmung der Kaufpreiszahlungen für die Onecoin-Schulungspakete immer neue Banken gesucht, da ihnen die Geschäftsbeziehungen jeweils nach wenigen Monaten wieder gekündigt wurden“, teilt die Staatsanwaltschaft mit. Sämtliche Banken hatten in Anbetracht der vereinnahmten Millionensummen schnell Zweifel an der Seriosität des Geschäftsmodells. Weitere Anzeigen folgten. Auch in den USA läuft ein Verfahren. „Die Vereinigten Staaten gegen Ruja Ignatova alias Cryptoqueen“, so steht es in den Akten des Bezirksgericht des südlichen Bezirks New York.

Ihr wird Überweisungsbetrug, Geldwäsche und Wertpapierbetrug vorgeworfen. Der Bruder der Onecoin-Chefin, Konstantin Ignatov, wurde im März 2019 am Internationalen Flughafen in Los Angeles vom FBI festgenommen – ein Jahr zuvor soll er laut dem Schwarzwälder Boten noch an der Fasnet in Schramberg gesehen worden sein. Nach dem Verschwinden seiner Schwester hatte er die Geschäfte übernommen – und sich ähnlich wie sie in sozialen Netzwerken präsentiert: Am Hals komplett tätowiert, ist er auf den meisten Fotos mit Krawatte, feinen Hemden und Anzügen zu sehen.
Bruder will gegen seine eigene Schwester aussagen
Ignatov soll, wie verschiedene Medien berichten, am 13. März aus der Untersuchungshaft entlassen worden sein, obwohl sein noch laufender Prozess erst im Mai weitergehen soll. Aus verfügbaren Gerichtsunterlagen geht hervor, dass er sich in einem Zeugenschutzprogramm befindet.
Laut Ermittlern soll es auch Verbindungen zur bulgarischen Mafia geben. Zudem ist Ignatov der wertvollste Zeuge für die New Yorker Staatsanwaltschaft in der Causa Onecoin: Im November unterzeichnete er ein Geständnis, das vom amerikanischen Investigativportal Inner City Press geleakt und veröffentlicht wurde. Darin kündigt er an, gegen alle Mitbeteiligten – auch gegen seine eigene Schwester – vor Gericht auszusagen.
Marlies hat zuletzt 2018 versucht, etwas über Onecoin herauszufinden: „Ich habe eine Freundin, die sich sehr gut mit Computern auskennt. Sie hatte ich beauftragt zu recherchieren.“ Doch auf die entlarvenden Informationen stieß sie nicht. Eine weitere Geschädigte ist Sabine. Auch sie will ihren Namen nicht in der Zeitung lesen. Sie ist eine weitere Bekannte von Richard. Sabine möchte nicht verraten, wie viel Geld sie in Onecoin investiert hat: „Wir haben alle gesagt, wir investieren so viel, dass es uns nicht wehtut“, sagt die Mittfünfzigerin. „Man spielt nicht mit Geld, das man braucht.“ Mit „wir“ meint sie eine 30-köpfige Gruppe aus verschiedenen Städtchen im Markgräflerland, die alle in Onecoin investiert haben sollen. „Was einem weh tut, ist Ansichtssache“, sagt Richard.
Sabine ist sich nicht ganz sicher, was sie von Onecoin halten soll. Für einen Betrug hält sie das Ganze bis heute nicht. „Heutzutage kann ich googeln, was ich will, am Ende finde ich immer ein Dokument, das mir sagt, dass es sich um einen Betrug handelt“, sagt sie zu den öffentlichen Mitteilungen des Bafin. Sie ist immer noch Teil eines Gruppenchats auf dem Messengerdienst Telegram. Dort erhält sie Ende Januar eine Einladung zu einem Webinar: Ein gewisser Werner will dort von einem Meeting in der bulgarischen Hauptstadt Sofia berichten. Trotz der weltweiten Ermittlungen zu Onecoin gibt es offenbar immer noch Beteiligte, die das Netzwerk aufrecht erhalten.
Was auf Telegram passiert, interessiert Sabine nicht
Sabine liest diese Nachrichten nicht mehr mit. Sie hat keine Lust mehr. Für sie sei Onecoin ein spannendes Investment gewesen, sagt sie. Den Betrag nennt sie ihr „Zockgeld“ – das sei so, als würde sie damit nach Baden-Baden ins Casino fahren. Nur mit dem Unterschied, dass sie Casinos nicht mag und lieber Neues ausprobiere. Für den Fall, dass es funktioniert hätte, hatte sie schon einen Plan: Sie wollte mit einer Freundin verreisen. Enttäuscht ist sie nicht: „Es hätte auch funktionieren können. Das gibt es nicht nur in Deutschland, in China floriert der Markt noch.“ Deshalb glaubt sie immer noch daran, dass ihr Geld nicht verloren ist. Aber auch in der Chatgruppe tauchte die Warnung des Bafin auf. Danach kam keine Reaktion. Es blieb einfach still. Das kam ihr komisch vor.
Knapp zehn Anzeigen bei deutschen LKAs
Richard und Marlies haben die Hoffnung aufgegeben. „Ich wäre einfach froh, wenn ich die Summe die ich investiert habe, wieder zurück haben könnte“, sagt er. Eine Strafanzeige haben sie nie gestellt. Auf einer der Folien im Gasthaus von Heitersheim war damals zu lesen: „Alle Gewinn- oder Verlustrechnungen oder Gewinn- und Einkommensbeispiele, welche in dieser Präsentation gezeigt werden, sind effektiv existierende Zahlen oder Schätzungen. Sie sind jedoch nicht verbindlich dafür, was Sie wahrscheinlich selber verdienen werden. Erfolg oder Misserfolg hängt immer vom eigenen Engagement ab.“
Richard und Marlies haben jahrelang geschwiegen, weil sie sich selbst die Schuld für den Verlust des Geldes gaben. Jetzt, wo sie wissen, wie weit die Affäre reicht, überlegen sie doch, sich einen Anwalt zu nehmen. Dass das Ganze auch anderen Leidtragenden peinlich ist, darauf lässt eine Anfrage bei allen Landeskriminalämtern schließen. Dort sind gerade einmal zehn Strafanzeigen bekannt. Bei 360 Millionen Euro, die über das Konto in Münster geflossen sind, und allein 705 Buchungen innerhalb von drei Tagen – bei einem Betrug, der über ein Jahr erfolgreich war – können das längst nicht alle enttäuschten deutschen Mitspieler sein.
Haben Sie mehr Informationen zu Onecoin? Schreiben Sie mir unter keller@badische-zeitung.de