
Sie steht am Bahnhof in Lörrach-Stetten. Ein junger Mann kommt auf die 17-Jährige zu und nennt die Zahl 25. Dass der Fremde diese Zahl nennen würde, hat ihr ihr Onkel vorher gesagt: Es ist das Jahr 1946 und der Mann soll sie über die Grenze schmuggeln. „Wie zwei so Verliebte sind wir dann am Bahngleis entlang, runter zu einem Feldweg gelaufen“, erzählt Verena Hugenschmidt. „Das ganze Gestrüpp war runtergetrampelt. Wir waren also nicht die Ersten, die so über die Grenze sind.“
Dieser Artikel erschien zuerst in der Badischen Zeitung
Im 20. Jahrhundert war die Schweiz für viele Frauen aus dem deutschsprachigen Raum ein attraktives Ziel der Zuwanderung: Das zeigt aktuell die Ausstellung im Lörracher Dreiländermuseum „Mädchen, geh in die Schweiz und mach dein Glück!“ im Rahmen des Projekts „Magnet Basel. Migration im Dreiländereck“. Grund war ein chronischer Mangel an Dienstmädchen. Baden und Württemberg waren damals die traditionellen Einzugsgebiete, doch handelte es sich nie um eine rein regionale Naheinwanderung. Pro Jahr reisten 30.000 Deutsche und Österreicherinnen ein, um in einem Schweizer Haushalt zu arbeiten. 1930 war jede vierte Hausangestellte aus dem deutschsprachigen Ausland.
Der Großteil reiste im Gegensatz zu Hugenschmidt aber legal mit dem Zug ein: „Damals war das eine spontane Sache,“ so Hugenschmidt, „jetzt denke ich mir ‚Mensch, was ich mich da getraut habe!'“ Nach der Schule absolvierte die in Müllheim geborene Hugenschmidt im Alter von 14 Jahren ein Pflichtjahr auf einem Bauernhof in Vögisheim. Weil sie keine Stelle fand, blieb sie dort für ein weiteres Jahr als Dienstmädchen. Als sie danach beim deutschen Arbeitsamt den Wunsch äußerte, im Ausland zu arbeiten, war die Behörde dagegen. Hugenschmidt schaffte es dank ihrem Onkel trotzdem nach Fulenbach im Kanton Solothurn.
Die Dienstmädchenstelle in der Schweiz war für viele junge Frauen die einzige Gelegenheit, aus dem Dorf zu kommen: Montag Wäsche waschen, Dienstag Wäsche bügeln, Mittwoch frei, Donnerstag Boden putzen, Freitag das Schlafzimmer säubern und richten – für Agnes Hauser aus Rust war ihr neuer Job, den sie 1954 in Basel antrat, wie Ferien.
Zuhause ging die Tochter einer Landarbeiterin und eines Schlossers täglich in einer Tabakfirma arbeiten und musste danach den Haushalt machen. Für die „Schweizergängerinnen“, die aus allen Gesellschaftsschichten kamen, war es ein Weg in die Selbstbestimmung und ein Moment der Befreiung von elterlichen Normen: „Ich bin dadurch frei im Denken und unabhängig von der Meinung anderer geworden,“ sagt Agnes Hauser. Später lernte sie ihren Mann in der Schweiz kennen. Nach der Hochzeit erhielt sie das Schweizer Bürgerrecht und konnte bei ihm als Chemielaborantin arbeiten.
Diese Ehe-Verbindungen sahen damals nicht alle Schweizer gerne: Während die Deutschen und Österreicherinnen in einem Teil der Gesellschaft beliebt waren, weil sie als anspruchslose und fleißige Arbeitskräfte galten, machte sich im anderen Teil Fremdenfeindlichkeit breit. Viele Einheimische sahen die staatliche Souveränität von innen her gefährdet, da die Dienstmädchen fremdes Gedankengut mitbrachten. Der Vorwurf, die Dienstmädchen würden nur kommen, um sich einen Schweizer Mann zu angeln, hielt sich hartnäckig. Die Frauen galten als „sittlich verkommen“ und wurden oft zur Zielscheibe von sexueller Belästigung.
Verena Hugenschmidt hat solche Erfahrungen nicht gemacht: „Das gab es vielleicht mehr an der Grenze entlang. Meine Familie hat aber auch außerhalb des Dorfes gewohnt“, sagt sie. „Wenn ich dorthin bin, um Milch zu holen, habe ich Alemannisch gesprochen. Dann dachten alle immer, ich komme aus Basel.“ Bereits 1949 kehrte Hugenschmidt nach Müllheim zurück, da ihre Mutter schwer erkrankt war. Trotzdem beschreibt sie die zweieinhalb Jahre, die sie in der Schweiz verbracht hat, als die schönste Zeit ihrer Jugend: „Ich kann es jedem empfehlen, in die Fremde zu gehen.“
Ob Verena Hugenschmidt noch Kontakt in die Schweiz hat, lesen sie hier: „Für uns war das damals wie Urlaub“
Literaturhinweis
Während ihrer Dissertation hat die Historikerin Andrea Althaus 79 Lebensgeschichten von „Schweizergängerinnen“ in ihrem Buch „Vom Glück in der Schweiz? Weibliche Arbeitsmigration aus Deutschland und Österreich (1920–1965)“ zusammengetragen. Althaus ist auch die Kuratorin der Ausstellung, die sich noch bis zum 1. Oktober im Dreiländermuseum in Lörrach befindet.